Das Ende der Hörgeräte-Industrie?

Traditionelle Unternehmen verpassen gerne den Anschluss, wenn sie auf neue Entwicklungen zu spät reagieren. Als bekanntes Beispiel sei Nokia erwähnt, welches die Smartphoneentwicklung verpasste. Auch ganze Branchen, wie z. B. Navigationsgeräte, Kompaktkameras, Schreibmaschinen etc. können betroffen sein. Wird es der Hörgerätebranche auch bald so ergehen?

Mehr Selbstbestimmung

Es ist heute völlig selbstverständlich, Dinge im Internet zu bestellen und technisch komplexe Geräte wie Fernseher, Autos oder Smartphones selbst zu konfigurieren. Für fast Alles gibt es Anleitungen im Netz. Der Wunsch und die Fähigkeit der Einflussnahme ist sicher von Kunde zu Kunde unterschiedlich. Bei einem Auto wird der Eine maximal Wischwasser und Öl kontrollieren, der Nächste vielleicht selbst einen Öl- und Bremswechsel vornehmen und wieder ein Anderer optimiert gar den Motor. All das ist erlaubt, obwohl es sich um ein lebensgefährliches, tonnenschweres Geschoss handelt. Dagegen klingt es geradzu absurd, wenn die Feinanpassung eines Hörgerätes ausschließlich von einem Gesellen durchzuführen ist, dem Toningenieur es aber privat nicht erlaubt sein soll, seine eigenen Hörgeräte selbst zu optimeren. Doch so sieht es aktuell die Struktur der Hörgeräteversorgung in Deutschland vor.

Zu Lukrativ für Veränderungen

Mit Hörgeräten lässt sich viel Geld verdienen und es dürfte kaum elektronische Geräte mit solch hohen Margen geben, siehe PDF: Was ein Hörgerät wirklich kostet. Da sind Veränderungen auf Seiten der Akustiker und Hörgerätehersteller verständlicherweise kaum zu erwarten. Nun, mit dem Geld werden schicke Hörgerätefilialen, selbst in den kleinsten Dörfern, betrieben und die Broschüren der Hörgerätehersteller präsentieren Innovationen. Technisch gibt es durchaus interessante Funktionen, aber insgesamt wenig Fortschritt. Auch Nokia hatte lange vor dem Iphone den Communicator. Nur war der weder cool noch innovativ in der Bedienung.

Smarte Kopfhörer machen das Rennen

Apples AirPods: Ersetzen Sie bald Hörgeräte?

Direkten Zugang zum Ohr haben auch Kopfhörer. Befeuert durch den riesigen Erfolg der neuen Apple AirPods (kabellose Stereo Headsets) ist es zur Mode geworden, auffällige! Geräte im Ohr zu tragen. Ganz im Gegenteil zu Hörgeräten: Die versuchen durch ihre möglichst kleine, hautfarbene Erscheinung nicht aufzufallen. Kurz: Kopfhörer haben ein cooles Images — Hörgeräte dagegen sind für alte Leute und man versucht sie zu verstecken, statt sie als modisches Accessoirce zu sehen.

Warum muss man Schwerhörige am „Gerät“ erkennen? Würden sie einfach Headsets bzw. sogenannte True-Wireless-In-Ear Kopfhörer tragen, gibt es keinen sichtbaren Unterschied mehr zwischen Behinderten und Normalhörenden. Unterstützend kommt hinzu, das durch den „transparent Mode“ der neuen Headsets diese nicht mehr abgenommen werden müssen.

Jabra passt Kopfhörer individuell ans Gehör der Nutzer an, siehe Heise Artikel

Was liegt da näher, Headsets auch als Hörgeräte zu nutzen? Aktuelle AirPods führen beim Aufsetzten selbstständig einen Rückkopplungstest durch, messen Herzfrequenz und können anhand von integrierten Beschleunigungssensoren weitere Daten auswerten. Der nächste logische Schritt ist ein integrierter Equalizer, der eine individuelle, vom Smartphone autarke Anpassung des Eingangssignals der Mikrophone vornimmt und so zum Hörgerät wird. Jüngs stellte Jabra genau dies auf der CES vor. Als Tochterunternehmen des großen Hörgeräteherstellers GN Resound wird Jabra sicherlich von deren Know-How profitieren.

Noch ersetzen solche Headsets aber kein Hörgerät. In Punkto Batterielaufzeit, Einstellmöglichkeiten, Tragekomfort und interner Signalverarbeitung sind solche Kopfhörer klassischen Hörgeräten unterlegen. Aber der Abstand wird kleiner.

Chancen für Akustiker

Die meisten Akustiker verkaufen nur Hörgeräte. Doch eigentlich wären sie der ideale Ansprechpartner für Audio-Equipment, insbesondere für hochwertige Kopfhörer. Sowohl die audiophile Kundschaft als auch das junge Publikum haben eine Kaufbereitsschaft für höherpreisiges, gutes Equipment. Vielleicht wird dieser Markt noch rechtzeitig erkannt und es ergeht den Akustikern nicht wie vielen Uhrengeschäften, die den Markt der Smartwatches verschliefen.

Für Betroffene und Schwerhörige brechen in jedem Fall spannende Zeiten an. Es wird bald völlig selbstverständlich sein, seine Hearables einfach auf die individuelle Hörkurve selbst anzupassen. Ob dies dann noch klassische Hörgeräte sind, darf angezweifelt werden.

7 thoughts on “Das Ende der Hörgeräte-Industrie?

  1. Klasse geschrieben! Ich finde man merkt das auch, dass die klassischen Hörgeräteläden abgehängt werden von der technischen Entwicklung und Vielfalt.

    Bei mir steht gerade neue Hörgeräte an und ich nehme immer state-of-the-art Geräte. Selbst bin ich Informatiker und schon länger Hörgerätenutzer, würde ich mich als Power-User bezeichnen.

    Das Problem ist, ich gehöre überhaupt gar nicht zur Zielgruppe. Die Frage nach einer Übersicht welche Hörgeräte denn Bluetooth Streaming auf Android unterstützen bleibt unbeantwortet und motiviert auch mein Gegenüber nicht, sich in die Thematik einzuarbeiten.

    Aber wo gehe ich jetzt hin? Ich muss das Gerät ja über einen Akkustiker beziehen, damit meine PKV das übernimmt.

    Gibt es Foren, wo man solche technischen Fragen loswerden kann?

    Bin für jeden Hinweis dankbar, hätte am liebsten einen fiffigen Akkustiker in meiner Nähe.

    1. Hallo Herr Bannert,

      ich kann Ihnen bezüglich beidseitigen Streaming die Lösung von Phonaks vorherigen Serien Belong und Venture in Verbindung mit dem ComPilot Air 2 empfehlen. Ich nutze dies seit mehreren Jahren und gerade das Telefonieren ist durch das Mikrofon im Zusatzgerät qualitativ sehr gut. Generell beziehe ich das Zubehör gebraucht über ebay aus den USA oder teilweise auch aus UK.

      Der Vorteil über den ComPilot Air 2 ist, dass dieses Gerät einen „normalen“ Bluetooth Empfänger darstellt und er direkt mit beiden Hörgeräten kommuniziert. Die neueste Serie von Phonak möchte ja auch gerne als direkter Bluetooth Empfänger am Markt platziert werden. Kann auch sicherlich empfangen, nur sind die Mikrofone für die eigene Stimme bei Telefonaten irgendwie nicht so perfekt positioniert.

      Viele Grüße

    2. Guten Tag Herr Bannert,
      eine Seite, die Hörgeräte mit solchen Eigenschaften aufschlüsselt ist mir nicht bekannt. Direkt via Bluetooth streamen lassen sich Hörgeräte z. B. von Starkey : https://www.starkey.de/hoergeraete/technologien/livio-smartphonekompatibel-hoergeraete oder GN Resound https://www.resoundpro.com/de-DE
      Wenn Ihr Akustiker diese Frage aber schon nicht beantworten kann, würde ich mir einen Neuen suchen, auch wenn es müßig ist.
      Viel Erfog wünscht
      Philip Simon

  2. Ich hatte das Glück beim letzten Hörgerät auf einen technisch versierten Akustiker zu treffen, mit dem ich fachsimpeln konnte. Das ComPilot hat mich damals unglaublich nach vorne geworfen, endlich via Bluetooth mit DECT-Schnurlos und natürlich Smartphone zu telefonieren oder Musik zu hören. Die Anpassung des Hörgerät konnte er nach alter Manier zwar gut umsetzen – ich hätte es gerne selber gemacht! Einfach mal rumprobieren, tageweise Profile testen. Ich trage seit 50 Jahren Hörgeräte, ich werde doch wohl eher wissen, was mir gut tut und was ich wirklich brauche. Statt dessen Heimlichtuerei und komische Remote-aufschalterei, wo der Akustiker sich per App bei mir aufschaltet. Das will ich selber können! Die Chips sind ohnehin alle dieselben, es gibt nur 2 Hersteller für die Hörgeräte-Chips. Die Software wird dann nur noch gebrandet. Bin gespannt, ob Opensource den Weg hinein findet. Dann würde es preiswerte Apparate mit Self-Service geben. Natürlich nicht in Deutschland. Dort muss der Kauf samt Anpassung dann sogar noch beim HNO abgenommen werden. Immerhin scheint Bluetooth Low Energy seinen Weg in die Hörgeräte zu finden. Jetzt noch standardisierte Schnittstellen, und das Hörgerät wird zur Meldezentrale, selbst programmiert mit einem ESP32?

  3. Ich war bei 5akustiker probetragen, 3 da von weigerten sich, den hörtest rauszugeben, erzählten 65% und schickten aber 80% an die kk….!
    Logisch sonst müssten sie “aufzahlungsfrei“ das nächst teuerer gerät an uns kunden herausgeben.
    Wir werden besch…..ohne ende, da für die geheimniskrämerei wie einer das hier beschrieb. Und der staat, die sozialgerichte, machen mit….klage nach 10 jahren abgelehnt, ich hätte keine beweise da für…lach wenns nicht so traurig wäre, das gericht erkennt die “ Subjektiven per hand eingereagenen hörteste % als beweis
    an“, meine argument, das nur vom kunden gegengezeichnete hörprotokolle ein beweis wäre, lehnte es ab. Die kk schieben mit ihren mischkalkulation die verantwortung an die akustiker ab und können sich sicher sein, das diese ALLES da für tun, das der test für die“kassengeräte“ immer sehr gut da steht, denn dann können ihre kumpels die KK , klagen immer schön abweisen und bekommen recht vor gericht. Und dann laufen wir entweder mit “streichholtzschachteln“ hinterm ohren rum oder zahlen kräftig zu.
    So läuft das hier in deutschland und
    die 3 (kk+akustiker+hersteller) hoffen, das es schön so bleibt.

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